Marc Felix Serrao, Berlin 25.06.2021, 12.05 Uhr
Die ARD löschte ihren Tweet, aber der Verdacht blieb.
Für ihre Untersuchung werteten die Wissenschafter Tausende Twitter-Interaktionen aus, einmal in der laufenden, einmal in der vorherigen Legislaturperiode. Die Journalisten waren dabei alle Mitglieder der Bundespressekonferenz (Anm. d. Red.: Der Autor dieses Artikels ist auch Mitglied), also Berichterstatter, die sich hauptberuflich mit deutscher Bundespolitik beschäftigen. Im ersten Zeitraum waren es 425 Medienvertreter, im zweiten 512.
Die Wissenschafter werteten zum einen die Tonalität ihrer Tweets aus: Werden Fakten präsentiert oder Meinungen? Ist der Ton emotional oder sarkastisch? Dabei kamen sie zu dem - wenig überraschenden - Ergebnis, dass nur ein kleiner Teil der Tweets als Berichterstattung klassifiziert werden kann. Journalisten nutzten den Dienst eher, um ihre subjektive, meist kritische Meinung zu äußern.
Zum anderen schauten sich die Wissenschafter die Interaktionen zwischen Politikern und Medienvertretern an. Dabei unterschieden sie zwei Modi: Kooperation und Konflikt. Ein Austausch war für sie kooperativ, wenn sich die Beteiligten beispielsweise ernstgemeinte Fragen stellten, einander informierten, zustimmten, lobten oder auch persönliche Begegnungen erwähnten.
Abermals wenig überraschend: Der Konfliktmodus sei mit zwei Dritteln aller Interaktionen klar dominant gewesen, schreiben die Autoren - was vor allem an den Journalisten gelegen habe. Politiker seien eher auf Kooperation aus, wohl auch, um negative Berichte zu vermeiden.
Interessant sind die Unterschiede nach der Parteizugehörigkeit. So hätten Abgeordnete der Linkspartei in von ihnen initiierten Interaktionen mit Journalisten am häufigsten einen kooperativen Tonfall gezeigt (66 Prozent), darauf folgt die SPD (61 Prozent) und die Union (59 Prozent). AfD-Abgeordnete seien am wenigsten kooperativ gewesen (25 Prozent), was angesichts der Berichterstattung über die in weiten Teilen rechtsradikale Partei allerdings nicht überrascht.
Auch bei den Interaktionen, die von Journalisten initiiert wurden, gab es laut der Studie grosse Unterschiede. So seien im ausgewerteten Zeitraum des vergangenen Jahrs 51 Prozent aller Tweets, die sich an grüne Abgeordnete gerichtet hätten, im Ton kooperativ gewesen. Zum Vergleich: Beim Austausch mit Unions- und SPD-Abgeordneten sei das nur in 37 Prozent der Fälle so gewesen.
Der spannendste Teil der Untersuchung befasst sich schließlich mit den Urteilen der Journalisten über einzelne Politiker oder Parteien. Hier, so die Autoren, seien die Ergebnisse wirklich "bemerkenswert". Während die Urteile sonst mit einer überwältigenden Mehrheit negativ gewesen seien, hätten die Journalisten die Öko-Partei und ihre Vertreter im Untersuchungszeitraum des Jahres 2016 lediglich in etwas mehr als einem Drittel aller Fälle (37,5 Prozent) negativ beurteilt.
Im zweiten Untersuchungszeitraum (Anfang März bis Mitte Mai 2020) seien die Grünen dann sogar kein einziges Mal beurteilt worden. Kurios, schreiben die Autoren selbst. Die Nichtbeachtung könnte an der Nachrichtenlage gelegen haben; im Februar 2020 war es im Freistaat Thüringen zur Regierungskrise gekommen.
Dieses Ereignis würde auch erklären, weshalb der Prozentsatz negativer Beurteilungen der FDP - die damals für kurze Zeit einen von der AfD mitgewählten Ministerpräsidenten stellte - mit 75 statt 50 Prozent deutlich höher ausfiel als 2016. Auch die Linkspartei rutschte in der Gunst ab; aus 66,7 Prozent negativen Urteilen wurden 85,7 Prozent. Die Union wurde mit 69,7 und 69,2 Prozent gleichbleibend kritisch beäugt, die SPD konnte sich von 71,4 auf 66,7 Prozent leicht verbessern, und die AfD blieb so ungeliebt wie vorher auch: 100 Prozent negativ.
Anteil der Tweets mit einer negativen Bewertung der jeweiligen Partei bzw. ihrer Vertreter (in Prozent)
Bleibt die Frage, ob die Befunde dieser Studie heute, da die grüne Spitzenkandidaten Annalena Baerbock im Fokus der Medien steht, andere wären. Vermutlich ja. Aber Baerbocks Kandidatur und das Wahljahr allein erklärten die Unterschiede zwischen den Parteien nicht, meint der Co-Autor Christian Nuernbergk. "Welches Twitter-Publikum haben die Journalistinnen und Journalisten im Kopf, wenn sie twittern, welche Reaktionen erwarten sie?" Auch diese Fragen könnten dazu führen, dass manche Positionen und Personen eher kritisch bewertet würden als andere. Eine Inhaltsanalyse, wie seine Kollegen und er sie durchgeführt hätten, könne das allein nicht aufklären.
Nachtrag: Da für die Studie nur Beurteilungen über Parteien aus direkten Interaktionen zwischen Mitgliedern der Bundespressekonferenz und Abgeordneten auf Twitter ausgewertet wurden, ist die Datenbasis relativ klein. Auf Nachfrage eines Journalisten der Plattform Netzpolitik teilte Co-Autor Maurer mit, dass etwa die 79 gezählten Beurteilungen des zehnwöchigen Untersuchungszeitraums im Jahr 2020 von lediglich 28 Accounts stammten. Eine weitere Untersuchung auf grösserer Datenbasis hätte demnach mehr Aussagekraft.
Quelle: NZZ vom 25.06.2021